"Ein ganzes Jahr schon.", schüttelt er den Kopf und die Streichholzflamme aus, mit der er sich eine Zigarette angesteckt hat.
"Wir sind doch eigentlich ganz gut ausgekommen." Das muss ich zugeben. Wenige Metaphern, in denen wir das Leben zum Abend hin gerinnen ließen. Keine Schwangerschaften, Axtmorde. Den einen oder anderen Text. Viele leere Martiniflaschen. Eimer voll gemischt Erbrochenem aus letzterem, nahgelegenen Mahlzeiten, Tränen und versehentlich geschluckten Halbwahrheiten. Gemeinsam aufgedeckte Lügen, gegenseitige Umdekorierung von kultureller Aufgeworfenheit zu moralischer Verworfenheit und umgekehrt.
Ein Jahr partielles Leben. Gemeinsam kommen wir vielleicht auf ein ganzes. Und falls nicht, droht Gottfried, will er den Martin einladen. Der kommt dann vorbei, fährt mit seinem Schwarzwald unten vor und bringt ein Tablett voll Zuhandenem mit. Und erst dann würde ich bemerken, wie vollständig ich bereits zuvor gewesen war.
Ich nehme mir das Streichholz und ziehe mir die dünne lose Schicht auf der verkohlten Spitze quer durchs Gesicht. Alles Gute.
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Meistens hat er Glück und tritt in einem ähnlichen Moment wie ich in diesen Zustand ein, und ist dann schreibend hochkonzentriert in der Lage, mich als vorübergehendes Inkonveniens, das zufällig im Nebenzimmer residiert, zu betrachten.
Aber diesmal nicht mit mir.
"Ich habs satt", schreie ich und trete gegen die Couch, auf der er sitzt, "ich mach die Scheisse nicht mehr länger mit! Mach mir das raus!"
Ich weiss genau, was jetzt passiert. Er natürlich auch.
Ausdruckslos sieht er von seiner viertelsbeschriebenen Seite auf und rezitiert sein ich in einem Stück:"Ich bin Hautarzt."
Was er damit eigentlich sagen möchte:"Ich schreib jetzt - also halt den Rand. Ist nicht mein Problem, dass Du nicht damit zurechtkommst, Gefühle zu haben. Außerdem weisst Du genau, dass man sie nicht chirurgisch entfernen kann."
Mein Hintern sucht auf der Couch halt. "Ich mach das nicht mehr mit."
"Das hast Du schon einmal gesagt. Und zwar nicht nur einmal." Lakonisch blättert er eine Seite zurück und wieder vor.
Ich greife nach mir und schwenke den vollen Impuls der Wut auf eine rationale Schiene ein. Sinnlos, aber ich. Ach was, ein und tut es auch.
"Gefühle für die Familie, ja. Gefühle für Haustiere, ja. Mitgefühl für Schwächere, ja. Aber doch kein intensives Gefühl für andere Menschen. Wer hat sich die Scheisse bloß ausgedacht. Jeden Tag quälen sich Menschen damit, ständige Wechsel der Intensität oder des Objekts oder, falls es schecht läuft, letzteres gerade nicht, wie es jeweils eben nicht passt, hat sich denn keiner je mal gefragt, was der Blödsinn soll?"
"Nein, Du bist der Einzige und ich frage mich vielmehr, was DER Blödsinn soll." Völlig unerwartet steht er auf und schliesst die Zimmertür.
"Da, lauf durch, wenn Dir danach ist."
Holz auf Holz. Da hätte ich immerhin eine 50% Gewinnchance.
Seufzend hebt er den Block. "Darf ich jetzt weitermachen?"
Dann klopft er mir aufmunternd auf die Schulter. "Das geht uns doch allen so, das wird schon wieder." Er beginnt unter der Couch zu kramen, und siehe da - er gibt mir ein Abendland, ganz für mich allein. Das freut mich. Ich gehe, es den Flammen zu übereignen.
Aber aufgeben, den Dämon auszutreiben, habe ich noch nicht.
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"GOTT!", sagt Gottfried und schiebt seine kleine massige Gestalt durch die große Eichentür, "kannst Du froh sein, dass mir zuhause langweilig war."
Wir stehen in einem Vorraum, weiss sind die Wände, punktuell mit kleinen modernen Bronzeskulpturen geschmückt. Mir kommt ein böser Verdacht. Der Hauptraum bestätigt ihn: kein Weihwasser, dafür festinstallierte Klingelbeutel links und rechts der Tür. Kein Weihrauch hat den Altar vor uns je berührt. Das haben dafür jede Menge bunter Tücher getan. An den Wänden wieder Skulpturen, Bilder, einzelne Statuen vorne am Altar. Sie müssen gleich gepolt sein, so dass sie sich abstossen und sich in einem jeweils möglichst großen Abstand voneinander aufreihen. Man möchte vor jedem einzelnen stehen bleiben, die Hände auf den Rücken legen, blinzeln, "aha" und "hm-hmmm!" murmeln. Wie in einer Galerie ist es.
Menschen, höchstverschieden im Alter und exakt gleich in der mangelnden Attraktivität, bewegen sich unter freundlichen Absprachen hin und her, besorgen Dinge, legen Zettel auf die Sitze. Es herrscht eine gemeinschaftlich demokratische Atmosphäre, so als würde alles, was hier bald geschieht, der konsensbasierten Anstrengung der Anwesenden entstammen. Ich bin entsetzt. Wo bleibt die Demut, auf deren Basis der Glauben an göttliche Allmacht entsteht? Wo gekrochen werden sollte, wird gesummt.
"Aehem." Ohne Weihwasser geht das sowieso nicht.
"Die Frauen waren früher auch schon so, schau nicht so entsetzt." Gottfried hat am Rand einer Bank platz genommen.
"Ich glaube...er ist hier nicht. Also meiner nicht...also ich kann ihn hier nicht...spüren?"
Aber ich weiss, dass ich ihn auch in einem Raum, der wie die Schatzkammer der Königin von Saba mit Blattgold ausgestrichen und Juwelen besetzt ist, durch dessen buntglasverzierte Fenster das Ostlicht auf den Altar fällt und in dem höchstens Touristen mehr als zu raunen wagen, nicht finden werde. Nicht mehr.
Und das heisst, ab heute gibt es nur noch einen Bezugspunkt: Mich.
"Rück mal,", ich setze mich zu Gottfried auf die Bank, nehme die Augen vom tuchüberdekorierten Altar, setze die Stirn mit leichtem Ruck auf der Lehne der Vorderbank ab und lege die Hände über dem Hinterkopf zusammen.
"Oh Gott."
Gottfried nickt nur.
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Gottfried nickt anerkennend. Er hält inne. Andererseits - feiern.....
"Er ist jetzt an einem besseren Ort."
Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen - darauf trinken wir. Und darauf, dass man uns schneller vergessen kann, als wir zuschlagen können.
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so wie das letzte Wasser sich im Mai ergiesst
ein frohes Pfeifen für den Morgen,
der grünlich in den Sommer fliesst.
Ein Knick im Handgelenk,
für Permafrost mit den geeisten Fliegen,
aus einer Hitze, die vor Null erstarrt,
was dort zu liegen kam, bleibt ewig liegen.
"Meine Güte, das ist ja furchtbar. Ich mach Dir ein Bier auf!"
Gottfried weiss, wenn ich beginne, Lyrik abzusondern, bin ich kurz vor dem Exitus. Misstrauisch beäugt er kurz mich, dann das Fenster und setzt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Richtung Küche in Bewegung. Zwei Minuten später habe ich nicht nur ein perfekt gekühltes Bier, sondern auch eine von Gottfried handangerauchte Zigarette.
Er setzt sich auf die Couch vor dem Fenster, beobachtet aufmerksam, wie ich trinke und ziehe und ist einfach da.
"Sicher geht es Dir jetzt schon besser?" Sein Ton ist ungekannt weich und besorgt. Ich schweige, nach zwei Strophen mehr als erschöpft.
"Soll ich Dir was von Deiner Negermusik einlegen?"
Mein Blick liegt gleichzeitig vor, auf und hinter ihm.
"Ich mach uns das Oratorium von Hindemith rein, da habe ich den Text gemacht...", ein Blick zu mir, "ach, nee..."
Ich lasse schwerfällig einen Satz aus dem Mundwinkel fließen. Gehässigkeit erleichter den Fluss.
"Gottfried, lad doch eine von deinen Frauen ein, aber bitte eine, die in ganzen Sätzen sprechen kann."
"Pfffff!" Aber er greift zum Telefon.
Was Mitbewohner nicht alles tun, damit nur keine weitere schlechte Lyrik entsteht.
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Gottfried scheint heute wieder mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein. Um genau zu sein, ist er heute noch gar nicht aufgestanden. Er hat sich, wenn ich mich recht entsinne, gegen viertel vor elf in eine bequemere Position gewälzt.
"Mach Dir selbst einen, ich habe nachzudenken."
"Jaja, ist klar, grübel ruhig noch was vor Dich hin, das macht die Welt sicher besser."
"Es macht die Welt besser, weil die Welt in meinem Kopf entsteht."
"Dann könnte Dein Kopf mal Kaffee entstehen lassen. Mit Milch und zwei Löffel Zucker bitte." Er grinst.
Dann beginnt er aber die Bodendielen ins Visier zu nehmen und ich weiss, er gibt mir recht. Unser beider Welt will schon lange nicht mehr so richtig. Was da in den Köpfen entsteht, krümmt und mäandert, wo es gerade sein sollte, fliesst weich, wo wir rechte Winkel vermuten, löst sich ab, wie Blätter im Herbststurm, wo wir ein konsistentes Ganzes vermuten.
Gottfried zieht eine Zigarettenschachtel unter seiner Decke hervor, nimmt sich eine Zigarette und streicht mit geschlossenen Augen darüber, um sich zu versichern, dass sie gerade ist. Zigaretten sollten gerade sein in der Länge, rund in der Breite. Ich stelle mir vor, wie die X-Achse mitten durch die Länge der Zigarette hindurch verläuft, genau im Mittelpunkt der Rundung. Die kreisförmige Projektion von Punkten der X-Achse auf Y- und Z-Achse zur Erzeugung der dreidimensionalen Form übersteigt allerdings meine mathematischen Darstellungsfähigkeiten.
"Ja, Himmel!" Die Zigarette ist nicht gerade. Das liegt höchstwahrscheinlich daran, dass Gottfried bis um Viertel vor elf auf der Packung lag. Aber immerhin - die Kausalität würde dann wenigstens einmal stimmen.
Ich sehe in die Packung, Tabakbrösel rieseln in die Ecken, zerdrückte, aufgeplatzte Zigarettenstengel, um die sich hilflos schützend die zerquetschte eingedellte Hülle aus Papier und Plastik schmiegt. Ein Massaker wie sie nur der Hintern eines dicken Mannes anrichten kann.
Und auf diese Kausalität mache ich dann doch noch einen Kaffee. Für Gottfried ohne Zucker.
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Zwischen uns und all dem ist eine Fensterscheibe, genauer gesagt zwei. Moderne Doppelverglasung mit der isolierenden Luftschicht zwischen den Scheiben. Durchsichtig - wenn sauber. 2007 kommt morgen, aber wir gehen nicht raus. Unsere Martinivorräte reichen für Wochen, Eis kommt aus dem Kühlfach, auch wenn die Temperaturen draußen auf Hochsommer steigen sollten. Gekühlt oder ungekühlt haben wir alles, was uns davon abhält, diese Wohnung in den nächsten Wochen zu verlassen.
Hoch die Tassen gegen das Mittwinterhoch, ein trauriger Toast auf die Frühblüher. Wann 2007 anfängt, bestimmen wir allein.
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Gottfried schlägt einen Umzug vor.
Ich überlege, ob es auch ein großer Sack täte, auf den man mit einer Diele einschlägt.
"Während wir in dem Sack sind?" Gottfried schüttelt den Kopf.
"Wir könnten uns abwechseln!" schlage ich vor.
Das findet er gut.
Da wir den Boden eigentlich gerne mögen, entscheiden wir uns für die 1.5 liter Martiniflasche im Kühlschrank als Schlaggerät, die ist aus dickem Glas und splittert nicht. Müssen wir sie nur erst leer bekommen.
Und das tun wir, während wir überlegen, wie wir alle Menschen in einen Sack bekommen. Mir kommt auf halbem Wege eine Idee.
"Solange es diese Martiniflaschen gibt, könnten wir einfach immer wieder neue kaufen!" Dann bräuchten wir auch keinen so großen Sack.
Doch die Industrie ist perfide. Sowie wir durch sind mit der Flasche, Luft dauerhaft den vollen Innenraum flutet, in gleichem Maße, wie wir uns mit Martini geflutet haben, der bachgrüne Schimmer hinter Glas verschwunden ist, sind wir so alkoholgeerdet, dass uns keine Diele und kein Glas mehr in die Hand kommt.
Wir fangen - bewegungsverhindert wie wir dann sind - bei uns selbst an und schlagen mit Worten.
"Gedankenlose Polyschlampe!"
"Gefühlloser Rabenvater!"
"Perverse intellektuelle Herzlosigkeit!"
"Ichgespaltener Frauenverbraucher!"
Das geht so eine Weile. Gottfried steht plötzlich auf, holt zwei kleine Spiegel und drückt mir einen in die Hand. Den anderen nimmt er und beginnt auf sein Spiegelbild einzuschimpfen.
"Gottfried?!"
Dann begreife ich und stimme ein. Wenn man sich selbst beschimpft, fällt einem noch sogar noch viel mehr ein.
"Emotionale Altlastendeponie! Angstgetriebener Eckenhocker! Pseudomoralischer Drecksphilister!"
Was für eine großartige Idee: Wenn sich jeder selbst schlägt, sind alle geschlagen.
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"Ich benutze keine alten Lochsocken zum Schuheputzen.", sagte er angewidert und bohrt mit dem linken Zeigefinger quer durch zwei Löcher in der Socke. Welches auf der Ober- und welches auf der Unterseite ist, lässt sich nicht mehr erkennen. Zumindest nicht am umliegenden Material. Durch Identifizierung der typischen dünngescheuerten Bereiche an den Zehen, auf der Fußsohle und am Ballen sollte eine Sockennordung möglich sein. Fragt sich nur, wo da ein Loch auf der Oberseite herkommen soll. Im Grunde ist es ja aber auch keine Socke mehr, sondern ein Schuhputzlappen, dessen dreidimensionale Gestalt per Definition nichts zur Sache tut.
Gottfrieds Schuhe sind inzwischen eine glänzende Angelegenheit, er steht auf, um seinen Hut zu suchen. Ich habe meine beste Hose an, immerhin saubere Schuhe, meinen Geschäftsmantel und den guten Hut. Meine Haare sind gekämmt.
"Gesicht gewaschen?", fragt Gottfried aus der Tür zur Küche. Er grinst, es ist ein Versuch. Mir fallen plötzlich so viele Flusen am Boden auf.
Friedhöfe ziehen Blumenläden an. Wir kaufen weiße Rosen, sechs, sage ich, für jedes Jahr, das ich zu alt bin, eine. "Blödsinn, mit dem Alter", erwidert Gottfried. "Totaler Quatsch, wir nehmen neunzehn."
Im Schaufenster stehen große Vasen mit Rosen unterschiedlichster Farbe. Farben, von denen in diesen Zeiten niemand mehr weiß, wozu man sie braucht. Rosa. Orange. Gelb. Mittelgroße Blütenstände in dekorativ unaufdringlicher Form. In einer Vase allerdings finden sich weiße und rote Rosen zusammen. Rotschwarze Samtköpfe aus schimmernden Blättern mit feingerollten biegsam festen Rändern. Die Natur hat das nicht so prachtvoll ausgerichtet. Ich frage mich, was es gekostet hat, dass wir einmal etwas schöner gemacht haben. Betrachtet man die großartige Werbeleistung trotz des Missverhältnisses der Symbolik roter Rosen und des Inhalts auf den sie verweist, braucht beispielsweise der Tod dringend ein neues Marketingkonzept. Sicher findet diese göttliche Agentur auch die schönsten Symbole zu eitrigen Geschwüren, Besoffenen im Bus und Wochenendarbeit.
Die weißen Rosen dagegen sehen aus wie aufgeplusterte Spatzen, rundgeschwollene vorne spitz zulaufende Blüten, noch nicht voll aufgeblüht schon dünnhäutig mit ersten braunen Linien. Erinnern eher an Tulpen als an Rosen. Wir gehen auf den Friedhof, wir kaufen weiße.
Neunzehn fette weiße Jungrosen sind nicht ganz billig, so dass ich mich meinem Portemonnaie in schlechtem Gewissen verpflichtet fühle, bis wir das Friedhofstor erreichen. Jetzt wird es ernst.
Kies knirscht unter unseren Schuhen, meine Zähne wollen zueinander. Ich zwinge den Kiefer einen Zentimeter weit auf. Zierbeete, leblos gepflegtes Grabgrün überall, ein Wunder, dass die Birken sich schälen dürfen. Man hört keine Vögel, es ist Herbst, die Vögel sind auf dem Weg nach Süden oder schon dort oder haben kein Interesse mehr an Reviergebahren, am Zimmern akustischer Gartenzäune. Paarungszeit ist ohnehin vorbei. Nächstes Jahr werden sie es wieder tun, weil die Natur es ihnen vorgegeben hat. Ich mag das stupide finden, die Natur findet, es hat sich bewährt.
Es hat sich auch bewährt, der zunehmenden Atemnot mit Blick auf den Boden und passiver akustischer Totaloffensive zu begegnen. Unter meinen Schuhen reiben grob geschätzt einhundertdreiundzwanzig Kieselkanten aneinander, einhundertdreiundzwanzig mal Krchch. Und noch ein Schritt.
Dann sind wir da. Kein Grün, weder neu, noch vertrocknet, gepflegt oder künstlich. Eine Grabplatte aus poliertem Marmor in rosa und grau, leicht gewölbt.
"Rosa - Poliert", sagen wir gleichzeitig, wissen nicht ob Frage- oder Ausrufezeichen oder Punkt dahintersetzen. Freude an der Konsistenz: Geschmackloser Tod, geschmackloses Totsein.
Gottfried streicht mit dem Finger über die glänzende Oberfläche, ich muss an seine Schuhe denken. Er tritt zurück, ich gehe ganz und gar in die Hocke. Viel höher ist die Grabplatte jetzt. Die grauen Einschlüsse im Stein reflektieren hier und da ein Licht. Kein Kiesel ist zu hören.
"Wegziehen wäre doch auch möglich gewesen. Dann hätte man wenigstens noch telefonieren können!", sage ich, ohne Gottfried anzusehen. Mein Kopf hakt sich aus, zieht die Halswirbelsäule mit, das Brustbein rückt näher. Die linke Hand sucht die Stirn. Das Rosa zieht sich weit in die Horizontale, beugt sich in einen stumpfen Winkel, schiebt mir die Zähne aufeinander und etwas Speichel in den Rachen. Die Kiesel scharren um meine Knie, greifen nach meinen Wangen.
"Nein.", höre ich Gottfried durch die Kiesel hindurch sagen, er zieht mich hoch, rückt mir den Kragen zurecht und wischt mir die Grabplatte aus den Augen. "Für so was geben wir nichts aus. Wir gehen."
Er hakt mich unter, legt mir die Rosen in den freien Arm, ich kann nur schwankend stehen. Eine ältere Dame mit einem grünen Giesseimer kommt uns entgegen, Gottfried grüßt freundlich. Er zerrt mich zum Friedhofsbrunnen, setzt mich auf den Rand und wäscht mir die restlichen Kiesel aus dem Gesicht wie einem Kind Schokoladeneis.
"Ich will jetzt eine rauchen und eine Toilette brauch ich auch. Da steht man am Wochenende so früh auf und dann liegt da ne rosane Grabplatte.", knurrt er, während wir uns -immer noch in der bekannten Formation, die Rosen in meinem, ich an seinem Arm - dem Friedhofstor nähern. Ich schliesse die Augen, finde kein Rosa mit Sprenkeln mehr vor. Lasse mich von Gottfried ziehen und würde die Blumen plötzlich gerne umtauschen. Anderes Bild - noch ohne Anzeige.
"Gottfried, wie sehen eigentlich Kamelien aus?"
"Das sind die mit den zwei Höckern. Die mit einem heißen Dromedare."
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Wir wissen beide, dass letzteres der Fall ist.
Gottfried sitzt seit zwei Stunden im Lehnstuhl und schaukelt einen quietschenden Takt.
"Ruhig heute".
"Ja, endlich." Ich schenke mir etwas Kaffee nach.
"Auch?"
Er winkt ab und wischt mit den Handflächen die Stuhllehnen entlang, während er schaukelt. Ich schütte einen dünnen Strahl Milch in den Kaffee, er fließt und fließt und trübt das Schwarz dunkelbraun. Zug um Zug rühre ich den Kaffee um, so langsam, dass sich kein Strudel in d r Mitte bildet. Die Oberfläche liegt glatt. Ich vergesse zu trinken. Gottfried hat sich eine Zigarette angezündet. Er zieht, die Glut glimmt auf, aber im Ausatmen entweicht kein Rauch.
"So geht das nicht". Er steht auf, geht in die Küche und beginnt in einer der Schubladen zu kramen. Eine Gelber-Sack-Rolle, zwei Zierkacheluntersetzer, hundert Papierschnipsel und einige Haushatsgummibänder später kommt er mit einer Streichholzschachtel zurück.
"Einer muss."
Er hält mir zwei Streichhölzer hin.
Vorsichtig strecke ich die Hand durch die Ruhe nach ihm aus, es ist wie durch Watte zu greifen. Einer muss. Die Ruhe ist vor seiner Hand zurückgewichen, die Streichhölzer ragen frei zwischen Gottfrieds Fingern hervor.
"Recht hast Du!", nicke ich und versuche beherzt zu wirken, dynamisch vorzustoßen zu einem der Streichhölzer. Ich greife.
Wir spielen es mit dem langen Streichholz, weil wir nur zu zweit sind und der mit dem Kurzen auch nur eine kurze Nacht hat. Der andere muß aufspringen, sich die Jacke überwerfen und hinaus, dahin, wo Menschen sind und Alkohol serviert wird. Denn es gibt keine bessere Mischung gegen Ruhe als Menschen und Alkohol. Dort muss er bleiben, bis ein Mittel gegen die Ruhe gefunden ist, ein Problem für die nächsten Tage und Wochen.
Das lange Streichholz liegt in meiner Hand, in Gottfrieds Hand das Kurze. Während ich die Jacke überstreife, setzt er sich wieder in den Schaukelstuhl und fasst die Wand in den Blick. Plötzlich hält er inne, springt auf, holt den kleinen blauen Putzeimer aus der Küche und stellt ihn vor die Wohnungstür.
"Diesmal", sagt er, ohne mich anzusehen, während er weiterschaukelt, "diesmal kotz aber bitte nicht wieder in den Flur."
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Gottfried dreht an seinem Glas, ich weiss, auch er hat Angst. Angst, dass jemand kommt und mit uns sprechen will, des Zwischenmenschlichen wegen. In diesem Sinne Dinge sagt, die man für Fakten halten kann, die es aber nicht sind und dem man darum vom ersten Moment an nicht glaubt. Den Leuten wachsen solche Worte wie Schimmel in der Feuchte des Mundes, wenn sie ihn zu lange offen haben. Wir sitzen mitten im Sporentanz mit unverschließbaren Ohren.
Allerdings haben wir auch unsere Methoden. Gottfried spuckt, ich schlage. Wenn es Frauen sind, deren Halbwertszeit an Interesse, das man für sie aufbringen kann, kürzer ist als die Zeit, die sie brauchen, um ihren Namen auszusprechen, lasse ich die Hände auf dem Tresen bis Gottfried aufsieht. Danach sitze ich für eine Weile alleine.
Kommt jemand zu mir, gibt es keine Ausnahmen. Gottfrieds Backen ziehen sich weit, er sammelt, er pumpt. Und spuckt gezielt ins rechte Auge. Keine Zehntelsekunde später folgt von mir ein Kinnhaken von links.
Wir wissen, dass das Sporentreiben niemals aufhört. Sie sitzen überall, in unseren Lidern, auf unseren Fingern, den Lippen, den Gläsern. Wir wissen, dass wir nichts glauben können, außer dem Barkeeper, wenn er sagt: "Hier, nochmal zwei Doppelte."
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Gottfrieds Gesicht taucht vor mir auf, stumm reisst er den Mund auf, seine Augen weiten sich, die Hände nimmt er hoch in einer wortlosen Geste, die ich nicht zu deuten weiß. Still bewegen sich seine Lippen, zucken immer schneller auf und zu, ich sehe die Zunge beben. Seine Hände greifen nach meinem Kopf.
Aus dem Lippenzucken wird Ton.
"Weisst Du eigentlich, was Du da machst?!" Gottfried hält meine Kopfhörer in der Hand.
"Ich fege", sage ich, fassungslos ob der Offensichtlichkeit dieser Antwort.
"Du singst laut mit!!" Gottfried schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, seine Backen schwingen träge der Drehbewegung hinterher.
"Man wird doch beim Fegen wohl noch Musik hören und mitsingen dürfen?"
Gottfried holt tief Luft und tritt einen Schritt näher an mich heran:
"Aber nicht "Forbidden Love" von Madonna!"
Schuldbewusst skippe ich zum nächsten Album im Alphabet - MZ 412.
Wo er recht hat, hat er recht.
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Gottfried sitzt auf der Bettkante, auch erst aufgewacht.
"Gottfried", sage ich, "warum sollen wir uns das antun, wieder und wieder? Wie oft noch so aufwachen?"
Der Morgen entwickelt sich in voller Graeue, je wache ich werde, desto intensiver bohrt er an mir.
Gottfried zoegert keinen Augenblick mit seiner Antwort. Mit der linken Hand haelt er meine linke Wange, mit der rechten klappt er mir den Unterkiefer herunter, bis mein Mund offen steht.
"Sublimieren,", sagt er, "damit wir sublimieren koennen. Schlucken und spucken."
Was er mir sagen will: Wir formen Schmerz zu Text und das ist gut. Mir kommt eine Idee.
"Und wenn wir formvollendet spucken, war, was wir so verdaut haben, am Ende noch nuetzlich?"
Ich setze mich neben ihn auf die Bettkante und wir laecheln zynisch vor uns hin: So viele Idioten, so viel Sublimationspotenzial.
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Ich stempele 80 Prozent der Bevoelkerung per se als Idioten ab. Wo ich zuvor aktiv davon abgesehen habe, setze ich das Stigma sehr ungern nachtraeglich - nur gezwungenermaszen. Was da aber an verbalem Dampf entweicht, dass sie mir ganz bestimmt schreiben, dass sie mich wiedersehen wollen, dass ich eine tolle Frau bin und mein Intellekt und Humor so beeindruckend sind - ohne dass irgendetwas davon jemals reale Konsequenzen wie auch nur einen Anruf oder eine sms haette - das ist ja nicht ihr Problem. Sondern meins. Zumindest falls ich zuhoere. Und genau das zwingt mir die ganz groszen Stempel in die Hand.
Neben dem Idiotenstempel fuehre ich noch zwei weitere mit mir. Einer sieht aus wie ein gigantischer Kartoffelstampfer. Damit lassen sich Menschenbilder zermalmen und durchdrehen, bis nichts mehr von der urspruenglichen Form uebrig ist. Der zweite wird mitten auf die Stirn angesetzt, auf ihm steht "Arschloch zum Ficken". Ich nutze keinen von beiden gerne. Es tut mir leid um jeden einzelnen Menschen, den ich auf diese Weise aus meinem Umkreis entfernen musz. Aber was soll ich tun?
Denn: Naja, das sagt man halt so, das gehoert dazu. Ist doch nicht wild. Das weiss man doch. Aber dass jemand einfach die Klappe halten kann, liegt auszerhalb des Moeglichen? Habe ich etwa um Phrasen gebeten? Am Ende ist doch wenig ehrlicher als ein einfaches Schweigen. Aber ich darf mir das Gesabbel Tropfen fuer Tropfen aus den Ohren ziehen, die Schotten dicht machen, aufpassen, dass nichts durchsickert. Und einen Topf heiszes Pech aufs Dach stellen, fuer den Fall, dass jemand versucht, den Burggraben verbal zu durchqueren. Knutschen mit dem Finger am Abzug - da kommt Stimmung auf.
Also: Stempel einpacken und regelmaeszig Stempelkissen nachfuellen, da weiss man, was man hat.
Mit meinem angeblichen Intellekt und meinem Humor kann man uebrigens inzwischen den Grand Canyon auffuellen - mit dem monatlichen Hausmuellaufkommen der EU-Mitgliedsstaaten allerdings auch.
... link (0 Kommentare) ... comment ...bereits 293 x gelesen
Gottfried kommt ins Bad, klappt den Klodeckel zu und setzt sich hin. Aus einem Täschchen packt er eine Spritze, eine Ampulle, Watte und Desinfektionsmittel aus, räumt mit dem linken Arm die Hälfte der auf der Waschmaschine liegenden Durcheinanders ab. Großartige Aussichten, all das hinter der Waschmaschine wieder vorholen zu dürfen. Sorgfältig zieht er die Flüssigkeit aus der Ampulle in die Spritze. Morphium.
"Hör mal Gottfried ", sage ich und erschrecke über meine gebrochen tiefe Stimme, "bevor Du hier Deinen Morphiumschoppen fertig baust, ich habe gesagt ich will keine Drogen hier in der Wohnung!"
Verätzte Stimmbänder, die Verbindung zwischen Hirn und Kehle voller Störsignale.
"Ach?!", sagt er nur, ohne mich anzusehen. Ich drehe mich wieder dem Waschbecken zu und versuche den Rotkohl mit dem Finger durch den Abfluß zu drücken.
"Jetzt rühr nicht auch noch drin herum!", höre ich von hinten.
Gottfried seufzt. Dann wird es still. Ich betrachte das Kreisen.
Das Waschbecken wird rund und wieder oval, wird nach unten lang und schmal in Trichterform gesaugt und schnappt nach oben zurück. Die rote Oberfläche besteht und schaukelt nur leicht, wo mein Finger gerade eingetaucht ist. Meine Arme werden lang, gummilang, als das Waschbecken nach oben auswächst, ich versuche mich zu halten, es strebt zur Decke, meine Finger klammern und ziehen die Arme mit. Aber die Arme halten nur bis zur Oberkante des Badfensters aus, dehnen sich bis kurz vor dem Reißen, die Finger krallen sich ein, ich will hoch, hoch auf den Badewannenrand, um Länge zu gewinnen, aber meine Knie wollen nach unten, wollen zu Boden, Zack macht es und die Finger lassen los und die losgelassene Zugkraft rammt mich in den Boden.
Ich erwache im Angesicht des Wäschekorbes. Daneben der Badmülleimer. Kein schöner Anblick. Die Fliese direkt vor meinem Auge grenzt an die Badewanne und blüht in schwarzem Schimmel hinüber zur Nachbarfliese. Die Schwere hat sich von meinem Magen in den Kopf verlagert. Teils nur, stelle ich fest. Ein lokales Maximum erhebt sich auch in der Blase. Zum Glück ist die Toilette gegenüber dem Waschbecken.
Ich hätte beim Kriechen die Augen offen lassen sollen. Die Geschwindigkeit erlaubt keine intensive Kollision, dennoch sind Gottfrieds Knie hart. Klock, macht mein Schädelknochen. Die Spritze liegt noch auf der Waschmaschine und Gottfried sitzt immer noch auf der Toilette, eingesunken im Morphinschlaf, verrutschte Wangen, ein Spuckefaden rinnt auf seine Schulter und hat den Stoff seines Hemdes in einem dunklen Fleck durchweicht.
"Gottfried, wach auf, ich muss auf Toilette!", ich fasse ihn an den Schultern, versuche ihn zu schütteln, aber er ist ein Klotz, schläft einen erstarrten Schlaf.
Erschöpft sinke ich zusammen. Ich muss auf Toilette. Dringend. Sehr dringend.
Es gibt nur eine Lösung, steigt es aus meinem Kopfnebel auf. Gottseidank muss ich nur klein.
Der Badewannenrand ist unendlich hoch, nicht zu fassen, daß ich normalerweise aus dem Stand hineinsteigen kann. Ich krieche bis direkt vor die Wanne und lege das Kinn auf den Rand. Erschöpft überlege ich, wie hineinzukommen ist, die Beine werde es nicht leisten können. Aber die Arme können. Können sich an die Armaturen klammern und ziehen, ziehen, bis der Bauchnabel jenseits der Randes liegt. Mit einem Ruck dreht mich die Schwerkraft mich auf den Rücken. Ein schmerzhafter Aufprall, mein Rücken wird morgen blau sein wie der Wannenboden. Ich bestehe nur noch aus Rücken, keine Arme, keine Beine, Rücken, Wannenboden, Schwerkraft und ich. Und die Blase. Keine Chance. Einfach laufen lassen. Hoffentlich läuft der Abfluss gut. Mir wird warm um die Beine.
Gottfried ist wachgeworden vom Aufprall, sieht mich liegen, hört den Strahl und sagt in morphiumsanfter Langsamkeit:"Keine Sorge .. Urin ist steril."
Na dann.
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"Ach komm", sage ich "immer die Rumhockerei, jetzt komm doch mal mit raus. Wir sind immer noch in Europa und haben immer noch Probleme. Meckern kannst Du auch draußen. Und Du musst keine kurze Hose tragen."
Er sieht mich strafend an, Augen zusammengerückt, Blick von schräg unten. Morgens, um fünzehn Uhr dreißig wird er ungern gestört. Sein weggelegter Stift scheint mich aus einem Minenauge zu fixieren, den Blick drohend in direkter Linie auf mich gerichtet. Das Efeu vor den Fenstern schaukelt leicht im Wind, ein Ast streift suchend über die Fensterbank.
"Kommst Du jetzt, oder was?"
"Aber nur, wenn ich den Liegestuhl mit nehmen darf. Außerdem brauche ich einen Sonnenschirm. Und den schwarzen Ascher." Gottfried, die alte Mimose. Will sich wohl seine vornehme Blässe bewahren.
Ich beginne die Reise ins Parallelunisverum Abstellkammer. Hinter den Kofferbergen und dem Krammeer, steht der Sonnenschirm, ein Hochlandgewächs über berggewordenem Sumpf. Während ich ächzend mit dem Schirm über das Krammehr zurücksegele, höre ich Gottfried gelangweilte aus dem Flur:" Gehen wir jetzt bald oder wie lange dauert das noch?" Er hat schon wieder eine Kippe in der Hand und schnippt sein Feuerzeug ungeduldig an und aus.
Ich seufze und karre den Schirm und den Liegestuhl nach unten - was tut man nicht alles für einen waschechten Expressionisten im Haus.
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"Anna, wie war das noch bei Dada?"
Nein, so einfach leider nicht.
"Gottfried, wie war das '33/'34?"
Es wird aus mir herausbrechen, vielleicht an einem Sonntagmorgen beim Frühstück. Wenn ich mir die Zimties langsamer in den Mund schaufele, weil der erste Hunger gestillt ist. Wenn der Kaffee angenehmer temperiert und die Schlucke darum länger werden. Dann könnte es passieren.
Aber zunächst stellt er Fragen.
"Warum sind da Fliegen in der Mülltüte?", fragt er beispielsweise, "hör nur, wie wütend sie summen!"
"Ja,", sage ich, "ich habe den Sack zu geschnürt."
"Wenn Du ihn nicht zugeschnürt hättest, würden sie nicht so laut summen."
Im Halbsekundentakt stoßen Fruchtfliegen von innen an die gelbe Plastikhaut. Aus der Nähe gewinnt das Miteinander von Knistern und Summen deutlich an Bedrohlichkeit. Sie sind viele, sagt es.
"Soll ich sie herauslassen? Du kannst sie dann gerne mit dem Staubsauger von den Wänden saugen, wenn Dir langweilig ist. Und keine Sorge, so schnell wirst Du damit nicht fertig."
Wir sind uns einig, wenn wir den gelben Sack jetzt öffnen, wird die Hölle mitten unter uns treten. Mit sechs Beinen und Facettenaugen.
Wenn ich das Küchenfenster öffne, vielleicht fliegt der Sack dann einfach weg?
Flieg, gelber Sack, Du bist frei! Flieg in den Abendhimmel!
Und Proviant hätten die Fliegen dann auch gleich dabei.
Wir sehen uns an. Seine Lippen furchen einen spitzbübischen Zug in seine Backen. Er zieht das Fenster auf, soweit es geht, zwinkert einen brummelfreien Halbsatz über den Sack und zieht mich am Ärmel ins Katzenzimmer.
Wir verstecken uns hinter der Tür und warten.
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Expressionisten: Gottfried und ich wollen ein Bahnticket kaufen. Er
steht neben mir in der Schlange und starrt seine Schuhe an. Den linken,
den rechten, dazwischen links, dazwischen rechts. Die Schalterhalle
quillt über vor Menschen, 80% davon WM-Mexikaner. Ich stöhne, ganz
vergessen. Die WM. Steht für prioritäre Behandlung von allem, was mich
nicht interessiert oder, noch besser, mir auf auf die Eier geht.
Gottfried sieht erstaunt auf. "Du hast doch gar keine Eier."
"Das ist so eine Redensart."
"Eier...", sagt er und verschwindet wieder zwischen seinen Schuhen.
Die Zeit vergeht. Bzw. nicht.
Es gibt zwei Schlangen: eine zu den Schaltern links, eine zu den
Schaltern rechts. Links sind fünf Schalter besetzt, rechts drei. Die
rechte Schlange ist kürzer und dem Gesetz der reversen Logik folgend,
habe ich mich dort angestellt.
Wir stehen. Aber wir stehen nicht einfach nur so, auf zwei Beinen, wie
es uns unser Körperbau ermöglicht. Wir stehen im tiefsten Sinne der
Statik, der Boden unter unseren Schuhen wird unser, wir sinken ein bis
fast zu den Knien, weil die Schwerkraft so an uns reisst. Der Boden
liegt lange, wir stehen länger.
Denn: nach zehn Minuten wird der mittlere Schalter geschlossen. Aus
drei mach zwei, denn siehe, es ist Zeit für die Mittagspause. Wissen
das die Mexikaner? Am hinteren Schalter kauft ein älteres Ehepaar
Bahncards. Der Mann hinter dem Schalter berät freundlich und
ausführlich. Ja, diese Bahn. Da haben sie sich so viel Mühe gegeben,
ihre Mitarbeiter auf Kundenfreundlichkeit zu trimmen. Sich Zeit zu
nehmen für die Kunden, nicht so lange Schlucke aus der Kaffeetasse
nehmen zwischendurch. Aber eigenständiges Denken haben sie ihnen
nicht beigebracht - jetzt können sie nur noch ausführlich. Ausführlich
mit langem u und ü. Aus zwei mach eins. Gottfried schwitzt. Erstens ist er massig und zweitens ist es heiß und drittens eng und viertens hasst er Menschenmassen. Seine Gesichtszüge geben der Schwerkraft nach, wollen bis zu den Schultern, schaffen es nur bis zum Kinn. Seine hängenden Backen sind ein Bild sämtlicher Menschen in dieser Schalterhalle, alle mit der Bremsspur des Wartens im Gesicht, abgestandene Augen, leicht vorgebeugt.
Alle Hoffnungen ruhen auf dem ersten Schalter. Ein Wunder, dass die
Frau dahinter noch kein Blut und Wasser schwitzt. Hasserfüllte Blicke
fallen auf jeden, der länger als zwei Minuten am Schalter bleibt.
Rücken, Schultern, Hinterköpfe werden kontinuierlich abgescannt mit der
abgestandenen Wut, die nur das Warten hervorbringen kann.
Eine Stunde später. Ich bin dran. Das ältere Ehepaar ist gerade
verschwunden, mit neuen Bahncards. Aber ich will nicht nur ein Ticket und das Gemecker der umstehenden im Ohr.
Die Schalterdame tippt meine Fahrt ein. Ich setze an. Ganz behutsam. Ganz konstruktiv, so wie ich es im Beruf gelernt habe.
Es wäre doch prima, wenn man von gegenüber ein paar Leute herüberholen könnte, damit die Schlangen auf beiden Seiten gleich schnell abgefertigt werden können. Ich strahle.
Ein Gesicht ganz geöffneter Mund.
Das geht nicht. Die sind doch da drüben.
Aber hier sind doch noch drei Schalter frei, wenn man zwei Leute herüberholen würde, wären auf beiden Seiten gleich viele.
Das geht nicht. Das ist schon vor Wochen eingeteilt worden.
Aber sehen sie nur, die ganze Halle ist voller Menschen, könnte man da nicht ein bischen flexibel sein?
Nein, ich kann darüber nicht bestimmen, wer wo sitzt.
Natürlich, aber vielleicht könnten Sie es anregen, dass jemand herübergesetzt wird?
Sie packt die metaphysische Keule aus und streckt mich mit einem Schlag nieder:
Nein, das geht nicht wir sind hier und die sind dort.
Ich nehme meine Karte und gehe, überwältigt von der philosophischen Allgemeingültigkeit ihrer Worte, die keinen Widerspruch zulassen, an denen kein Argument sich ankrallen kann. Gottfried steht draußen und raucht. Ich wette, unsere Backen hängen jetzt gleich tief.
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Gottfried Benn hat sich im Katzenzimmer eingenistet. Er sitzt den ganzen Tag auf der Couch, raucht ab und an verächtlich eine und starrt gelangweilt an die Wand.
Ich setze mich dazu, ziehe den Aschenbecher zu mir heran, seine Augen werden schmal, dazu müssen seine Augenlider einen beträchtlichen Weg zurücklegen. Er lehnt sich betont langsam zurück, fasst die Wand in den Blick, kann sich dann nicht mehr halten, schnell vor und zieht den Aschenbecher wieder zurück. Ascht ab. Wir sagen nichts.
Wenn er wieder mit dem Blick an der Wand hängt, fange ich von vorne an. Es klappt immer. Bald kann er sich nicht mehr auf die Wand konzentrieren, sondern fängt, sobald ich das Zimmer betrete, schon an, nervös nach dem Ascher zu schielen.
Ich könnte einen zweiten daneben stellen. Aber warum sollte ich?
Er kann Rauchkringel blasen. Wenn er sich einen Moment beruhigt hat, weil ich den Ascher in die Mitte zwischen uns zurückschiebe, zieht er den Rauch ganz tief ein, hält ihn einen Augenblick und stößt einen perfekt runden Kringel von den Lippen ab. Wir starren ihm beide fasziniert nach, wie er an Durchsichtigkeit gewinnt, sein grau verliert, verschliert, sich in ein Wölkchen zurückkrümmt und zerstiebt.
Dann ziehe ich den Ascher wieder zu mir heran.
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Neulich klingelte es und Gottfried Benn stand vor der Tür. In jeder Hand eine schweinslederne Arzttasche, aus der linken quoll ein Socken, aus der rechten ein Stethoskop.
"Moment mal, ", sage ich, "Du bist doch Hautarzt." So gehts ja nun nicht.
"Vielleicht kann ich erst mal reinkommen, oder müssen gestandene Expressionisten heutzutage im Treppenhaus campieren?", müffelt er.
Er hält mir eine Tube Canesten hin. Wer kann da schon wiederstehen? Ich lasse ihn rein. Er findet es bei mir unaufgeräumt.
"Neben der Spüle liegt ein Lappen, damit kannst Du den Kühlschrank abwischen und etwas draufschreiben." Dann ist er hoffentlich kurz beschäftigt, während ich mich mit dem Canesten verlustiere.
"Ich hätte ja früher gegen Canesten etwas anderes..." Er wischt an der Vorderseite des Kühlschranks herum. Minutenlang zielt er mit dem Folienstift auf die weissgewischte Fläche. Dann dreht er sich um und sieht mich an.
"Ich kann nicht auf Kühlschränken expressiv sein."
"Vielleicht kannst Du Dich dann mal setzen? Und keine Drogen hier drin."
Er müffelt etwas von Morphium, klatscht eine der Taschen schlechtgelaunt auf und zu und setzt sich auf einen meiner Klappstühle.
"Voooors..." Aber er ist schon aufgestanden und sucht sich ein stabileres Modell.
"Wenn ich hier einfach nur kurz sitzen könnte?", fragt er unsicher und lehnt sich plötzlich hilfesuchend eng an die Rückenlehne.
Ich schliesse die Augen. Aber klar doch.
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Ist ja gelogen, ich habe gar keinen Biomüll. Aber früher hatte ich einen, er hatte keinen Namen, hätte aber einen verdient, so lange, wie er mich oft begleitet hat. Weiss hier jemand einen guten Namen für einen Biomüll?
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