Freitag, 20. Juni 2008
Terminalzelle
Ich würde ja heute gerne etwas über die Komplexität langer Sätze schreiben. Nur ist mir heute gar nicht so nach langen Sätzen. Gar. Nicht. Ich will lieber die Lieder senken, die Stirn kraus ziehen und mit linksseitig herabgelassenem Mundwinkel etwas Weisswein hochrülpsen. Aber habe ich das leider niemals gelernt, andere üben ja in der Kindheit mit Hingabe. Das habe ich völlig versäumt. Angeblich muss man Luft schlucken und dann wieder hochdrücken. Mit der dezidierten Ansteuerung meiner Speiseröhrenmuskulatur habe ich es aber nicht so, da die erwachsene Speiseröhre sich nicht gerne untrainiert ansteuern lässt. Nur die kindliche Speiseröhrenmuskulatur scheint solchem Training zugänglich.
Gottfried kann es auch nicht. Er sagt, er findet es unzivilisiert, aber ich vermute, dass er genau wie ich schlichtweg das Üben verpasst hat. Gehört sich ja auch nicht, in so einem protestantischen Pastorenhaushalt. Dafür kann er - genau: Windeln wechseln. Krasse Jeschischte. Hat ja auch viel mit Kontrolle zu tun.
Wir sitzen uns gegenüber und versuchen möglichst lange Sätze zu produzieren. Das scheitert daran, dass wir zwar beide gut bandwurmen können, der Sinn sich aber meistens ab dem zweiten Nebensatz aus dem Staub macht. Schließlich kann sich nicht jeder mit einem zweigeschlechtlichen Darmparasiten identifizieren, auch wenn er dann aus als Proglottiden genannten Körperabschnitten bestünde. Und seine Exkremente über eine Terminalzelle abscheiden könnte. Es ist einfach unangenehm, wenn man die Begrifflichkeiten, die der eigenen Physis gewidment sind, weder hören, denken und schon gar nicht aussprechen kann. Wer Vorverdautes zu sich nimmt, braucht schließlich keine Zunge und muss nicht nach Futter schreien. Gottfried und ich sind einfach noch nicht genervt genug. Noch kommen die Sätze aus dem vorderen Stirnlappen, kommen sollten sie aber eigentlich über die Wirbelsäule und das Kleinhirn durch die Augen, von da auf die weiße Wand und von dort - über Bande sozusagen - über die Augen zurück zu den Händen mit kurzem Umweg über die Zunge. Die ist besonders bei den Satzzeichen stark involviert, mit Unterstützung durch Lippen und Zähne. Bei mir die Schneidezähne im Unterkiefer, bei Gottfried die rechten Backenzähne. Virtuos spiele ich auf dem Schneidezahnklavier ein paar Kommata in einen Satz.
Ach was solls. Ich geh jetzt ins Bett. Proglottiden.

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