Montag, 25. Juni 2007
Die Bahn
Ein zutiefst impressionistisches Erlebnis für den alten
Expressionisten: Gottfried und ich wollen ein Bahnticket kaufen. Er
steht neben mir in der Schlange und starrt seine Schuhe an. Den linken,
den rechten, dazwischen links, dazwischen rechts. Die Schalterhalle
quillt über vor Menschen, 80% davon WM-Mexikaner. Ich stöhne, ganz
vergessen. Die WM. Steht für prioritäre Behandlung von allem, was mich
nicht interessiert oder, noch besser, mir auf auf die Eier geht.
Gottfried sieht erstaunt auf. "Du hast doch gar keine Eier."
"Das ist so eine Redensart."
"Eier...", sagt er und verschwindet wieder zwischen seinen Schuhen.
Die Zeit vergeht. Bzw. nicht.
Es gibt zwei Schlangen: eine zu den Schaltern links, eine zu den
Schaltern rechts. Links sind fünf Schalter besetzt, rechts drei. Die
rechte Schlange ist kürzer und dem Gesetz der reversen Logik folgend,
habe ich mich dort angestellt.
Wir stehen. Aber wir stehen nicht einfach nur so, auf zwei Beinen, wie
es uns unser Körperbau ermöglicht. Wir stehen im tiefsten Sinne der
Statik, der Boden unter unseren Schuhen wird unser, wir sinken ein bis
fast zu den Knien, weil die Schwerkraft so an uns reisst. Der Boden
liegt lange, wir stehen länger.
Denn: nach zehn Minuten wird der mittlere Schalter geschlossen. Aus
drei mach zwei, denn siehe, es ist Zeit für die Mittagspause. Wissen
das die Mexikaner? Am hinteren Schalter kauft ein älteres Ehepaar
Bahncards. Der Mann hinter dem Schalter berät freundlich und
ausführlich. Ja, diese Bahn. Da haben sie sich so viel Mühe gegeben,
ihre Mitarbeiter auf Kundenfreundlichkeit zu trimmen. Sich Zeit zu
nehmen für die Kunden, nicht so lange Schlucke aus der Kaffeetasse
nehmen zwischendurch. Aber eigenständiges Denken haben sie ihnen
nicht beigebracht - jetzt können sie nur noch ausführlich. Ausführlich
mit langem u und ü. Aus zwei mach eins. Gottfried schwitzt. Erstens ist er massig und zweitens ist es heiß und drittens eng und viertens hasst er Menschenmassen. Seine Gesichtszüge geben der Schwerkraft nach, wollen bis zu den Schultern, schaffen es nur bis zum Kinn. Seine hängenden Backen sind ein Bild sämtlicher Menschen in dieser Schalterhalle, alle mit der Bremsspur des Wartens im Gesicht, abgestandene Augen, leicht vorgebeugt.

Alle Hoffnungen ruhen auf dem ersten Schalter. Ein Wunder, dass die
Frau dahinter noch kein Blut und Wasser schwitzt. Hasserfüllte Blicke
fallen auf jeden, der länger als zwei Minuten am Schalter bleibt.
Rücken, Schultern, Hinterköpfe werden kontinuierlich abgescannt mit der
abgestandenen Wut, die nur das Warten hervorbringen kann.
Eine Stunde später. Ich bin dran. Das ältere Ehepaar ist gerade
verschwunden, mit neuen Bahncards. Aber ich will nicht nur ein Ticket und das Gemecker der umstehenden im Ohr.
Die Schalterdame tippt meine Fahrt ein. Ich setze an. Ganz behutsam. Ganz konstruktiv, so wie ich es im Beruf gelernt habe.
Es wäre doch prima, wenn man von gegenüber ein paar Leute herüberholen könnte, damit die Schlangen auf beiden Seiten gleich schnell abgefertigt werden können. Ich strahle.
Ein Gesicht ganz geöffneter Mund.
Das geht nicht. Die sind doch da drüben.
Aber hier sind doch noch drei Schalter frei, wenn man zwei Leute herüberholen würde, wären auf beiden Seiten gleich viele.
Das geht nicht. Das ist schon vor Wochen eingeteilt worden.
Aber sehen sie nur, die ganze Halle ist voller Menschen, könnte man da nicht ein bischen flexibel sein?
Nein, ich kann darüber nicht bestimmen, wer wo sitzt.
Natürlich, aber vielleicht könnten Sie es anregen, dass jemand herübergesetzt wird?
Sie packt die metaphysische Keule aus und streckt mich mit einem Schlag nieder:
Nein, das geht nicht wir sind hier und die sind dort.

Ich nehme meine Karte und gehe, überwältigt von der philosophischen Allgemeingültigkeit ihrer Worte, die keinen Widerspruch zulassen, an denen kein Argument sich ankrallen kann. Gottfried steht draußen und raucht. Ich wette, unsere Backen hängen jetzt gleich tief.

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