Montag, 25. Juni 2007
Rock das Mike und gib es heiter weiter
kynis, 11:42h
Wir gehen heute auf den Friedhof. Gottfried hat seine Schuhe geputzt, nicht ohne zwei Päckchen Taschentücher zu verbrauchen. Auf sinnloseste Art und Weise, wie ich meine.
"Ich benutze keine alten Lochsocken zum Schuheputzen.", sagte er angewidert und bohrt mit dem linken Zeigefinger quer durch zwei Löcher in der Socke. Welches auf der Ober- und welches auf der Unterseite ist, lässt sich nicht mehr erkennen. Zumindest nicht am umliegenden Material. Durch Identifizierung der typischen dünngescheuerten Bereiche an den Zehen, auf der Fußsohle und am Ballen sollte eine Sockennordung möglich sein. Fragt sich nur, wo da ein Loch auf der Oberseite herkommen soll. Im Grunde ist es ja aber auch keine Socke mehr, sondern ein Schuhputzlappen, dessen dreidimensionale Gestalt per Definition nichts zur Sache tut.
Gottfrieds Schuhe sind inzwischen eine glänzende Angelegenheit, er steht auf, um seinen Hut zu suchen. Ich habe meine beste Hose an, immerhin saubere Schuhe, meinen Geschäftsmantel und den guten Hut. Meine Haare sind gekämmt.
"Gesicht gewaschen?", fragt Gottfried aus der Tür zur Küche. Er grinst, es ist ein Versuch. Mir fallen plötzlich so viele Flusen am Boden auf.
Friedhöfe ziehen Blumenläden an. Wir kaufen weiße Rosen, sechs, sage ich, für jedes Jahr, das ich zu alt bin, eine. "Blödsinn, mit dem Alter", erwidert Gottfried. "Totaler Quatsch, wir nehmen neunzehn."
Im Schaufenster stehen große Vasen mit Rosen unterschiedlichster Farbe. Farben, von denen in diesen Zeiten niemand mehr weiß, wozu man sie braucht. Rosa. Orange. Gelb. Mittelgroße Blütenstände in dekorativ unaufdringlicher Form. In einer Vase allerdings finden sich weiße und rote Rosen zusammen. Rotschwarze Samtköpfe aus schimmernden Blättern mit feingerollten biegsam festen Rändern. Die Natur hat das nicht so prachtvoll ausgerichtet. Ich frage mich, was es gekostet hat, dass wir einmal etwas schöner gemacht haben. Betrachtet man die großartige Werbeleistung trotz des Missverhältnisses der Symbolik roter Rosen und des Inhalts auf den sie verweist, braucht beispielsweise der Tod dringend ein neues Marketingkonzept. Sicher findet diese göttliche Agentur auch die schönsten Symbole zu eitrigen Geschwüren, Besoffenen im Bus und Wochenendarbeit.
Die weißen Rosen dagegen sehen aus wie aufgeplusterte Spatzen, rundgeschwollene vorne spitz zulaufende Blüten, noch nicht voll aufgeblüht schon dünnhäutig mit ersten braunen Linien. Erinnern eher an Tulpen als an Rosen. Wir gehen auf den Friedhof, wir kaufen weiße.
Neunzehn fette weiße Jungrosen sind nicht ganz billig, so dass ich mich meinem Portemonnaie in schlechtem Gewissen verpflichtet fühle, bis wir das Friedhofstor erreichen. Jetzt wird es ernst.
Kies knirscht unter unseren Schuhen, meine Zähne wollen zueinander. Ich zwinge den Kiefer einen Zentimeter weit auf. Zierbeete, leblos gepflegtes Grabgrün überall, ein Wunder, dass die Birken sich schälen dürfen. Man hört keine Vögel, es ist Herbst, die Vögel sind auf dem Weg nach Süden oder schon dort oder haben kein Interesse mehr an Reviergebahren, am Zimmern akustischer Gartenzäune. Paarungszeit ist ohnehin vorbei. Nächstes Jahr werden sie es wieder tun, weil die Natur es ihnen vorgegeben hat. Ich mag das stupide finden, die Natur findet, es hat sich bewährt.
Es hat sich auch bewährt, der zunehmenden Atemnot mit Blick auf den Boden und passiver akustischer Totaloffensive zu begegnen. Unter meinen Schuhen reiben grob geschätzt einhundertdreiundzwanzig Kieselkanten aneinander, einhundertdreiundzwanzig mal Krchch. Und noch ein Schritt.
Dann sind wir da. Kein Grün, weder neu, noch vertrocknet, gepflegt oder künstlich. Eine Grabplatte aus poliertem Marmor in rosa und grau, leicht gewölbt.
"Rosa - Poliert", sagen wir gleichzeitig, wissen nicht ob Frage- oder Ausrufezeichen oder Punkt dahintersetzen. Freude an der Konsistenz: Geschmackloser Tod, geschmackloses Totsein.
Gottfried streicht mit dem Finger über die glänzende Oberfläche, ich muss an seine Schuhe denken. Er tritt zurück, ich gehe ganz und gar in die Hocke. Viel höher ist die Grabplatte jetzt. Die grauen Einschlüsse im Stein reflektieren hier und da ein Licht. Kein Kiesel ist zu hören.
"Wegziehen wäre doch auch möglich gewesen. Dann hätte man wenigstens noch telefonieren können!", sage ich, ohne Gottfried anzusehen. Mein Kopf hakt sich aus, zieht die Halswirbelsäule mit, das Brustbein rückt näher. Die linke Hand sucht die Stirn. Das Rosa zieht sich weit in die Horizontale, beugt sich in einen stumpfen Winkel, schiebt mir die Zähne aufeinander und etwas Speichel in den Rachen. Die Kiesel scharren um meine Knie, greifen nach meinen Wangen.
"Nein.", höre ich Gottfried durch die Kiesel hindurch sagen, er zieht mich hoch, rückt mir den Kragen zurecht und wischt mir die Grabplatte aus den Augen. "Für so was geben wir nichts aus. Wir gehen."
Er hakt mich unter, legt mir die Rosen in den freien Arm, ich kann nur schwankend stehen. Eine ältere Dame mit einem grünen Giesseimer kommt uns entgegen, Gottfried grüßt freundlich. Er zerrt mich zum Friedhofsbrunnen, setzt mich auf den Rand und wäscht mir die restlichen Kiesel aus dem Gesicht wie einem Kind Schokoladeneis.
"Ich will jetzt eine rauchen und eine Toilette brauch ich auch. Da steht man am Wochenende so früh auf und dann liegt da ne rosane Grabplatte.", knurrt er, während wir uns -immer noch in der bekannten Formation, die Rosen in meinem, ich an seinem Arm - dem Friedhofstor nähern. Ich schliesse die Augen, finde kein Rosa mit Sprenkeln mehr vor. Lasse mich von Gottfried ziehen und würde die Blumen plötzlich gerne umtauschen. Anderes Bild - noch ohne Anzeige.
"Gottfried, wie sehen eigentlich Kamelien aus?"
"Das sind die mit den zwei Höckern. Die mit einem heißen Dromedare."
"Ich benutze keine alten Lochsocken zum Schuheputzen.", sagte er angewidert und bohrt mit dem linken Zeigefinger quer durch zwei Löcher in der Socke. Welches auf der Ober- und welches auf der Unterseite ist, lässt sich nicht mehr erkennen. Zumindest nicht am umliegenden Material. Durch Identifizierung der typischen dünngescheuerten Bereiche an den Zehen, auf der Fußsohle und am Ballen sollte eine Sockennordung möglich sein. Fragt sich nur, wo da ein Loch auf der Oberseite herkommen soll. Im Grunde ist es ja aber auch keine Socke mehr, sondern ein Schuhputzlappen, dessen dreidimensionale Gestalt per Definition nichts zur Sache tut.
Gottfrieds Schuhe sind inzwischen eine glänzende Angelegenheit, er steht auf, um seinen Hut zu suchen. Ich habe meine beste Hose an, immerhin saubere Schuhe, meinen Geschäftsmantel und den guten Hut. Meine Haare sind gekämmt.
"Gesicht gewaschen?", fragt Gottfried aus der Tür zur Küche. Er grinst, es ist ein Versuch. Mir fallen plötzlich so viele Flusen am Boden auf.
Friedhöfe ziehen Blumenläden an. Wir kaufen weiße Rosen, sechs, sage ich, für jedes Jahr, das ich zu alt bin, eine. "Blödsinn, mit dem Alter", erwidert Gottfried. "Totaler Quatsch, wir nehmen neunzehn."
Im Schaufenster stehen große Vasen mit Rosen unterschiedlichster Farbe. Farben, von denen in diesen Zeiten niemand mehr weiß, wozu man sie braucht. Rosa. Orange. Gelb. Mittelgroße Blütenstände in dekorativ unaufdringlicher Form. In einer Vase allerdings finden sich weiße und rote Rosen zusammen. Rotschwarze Samtköpfe aus schimmernden Blättern mit feingerollten biegsam festen Rändern. Die Natur hat das nicht so prachtvoll ausgerichtet. Ich frage mich, was es gekostet hat, dass wir einmal etwas schöner gemacht haben. Betrachtet man die großartige Werbeleistung trotz des Missverhältnisses der Symbolik roter Rosen und des Inhalts auf den sie verweist, braucht beispielsweise der Tod dringend ein neues Marketingkonzept. Sicher findet diese göttliche Agentur auch die schönsten Symbole zu eitrigen Geschwüren, Besoffenen im Bus und Wochenendarbeit.
Die weißen Rosen dagegen sehen aus wie aufgeplusterte Spatzen, rundgeschwollene vorne spitz zulaufende Blüten, noch nicht voll aufgeblüht schon dünnhäutig mit ersten braunen Linien. Erinnern eher an Tulpen als an Rosen. Wir gehen auf den Friedhof, wir kaufen weiße.
Neunzehn fette weiße Jungrosen sind nicht ganz billig, so dass ich mich meinem Portemonnaie in schlechtem Gewissen verpflichtet fühle, bis wir das Friedhofstor erreichen. Jetzt wird es ernst.
Kies knirscht unter unseren Schuhen, meine Zähne wollen zueinander. Ich zwinge den Kiefer einen Zentimeter weit auf. Zierbeete, leblos gepflegtes Grabgrün überall, ein Wunder, dass die Birken sich schälen dürfen. Man hört keine Vögel, es ist Herbst, die Vögel sind auf dem Weg nach Süden oder schon dort oder haben kein Interesse mehr an Reviergebahren, am Zimmern akustischer Gartenzäune. Paarungszeit ist ohnehin vorbei. Nächstes Jahr werden sie es wieder tun, weil die Natur es ihnen vorgegeben hat. Ich mag das stupide finden, die Natur findet, es hat sich bewährt.
Es hat sich auch bewährt, der zunehmenden Atemnot mit Blick auf den Boden und passiver akustischer Totaloffensive zu begegnen. Unter meinen Schuhen reiben grob geschätzt einhundertdreiundzwanzig Kieselkanten aneinander, einhundertdreiundzwanzig mal Krchch. Und noch ein Schritt.
Dann sind wir da. Kein Grün, weder neu, noch vertrocknet, gepflegt oder künstlich. Eine Grabplatte aus poliertem Marmor in rosa und grau, leicht gewölbt.
"Rosa - Poliert", sagen wir gleichzeitig, wissen nicht ob Frage- oder Ausrufezeichen oder Punkt dahintersetzen. Freude an der Konsistenz: Geschmackloser Tod, geschmackloses Totsein.
Gottfried streicht mit dem Finger über die glänzende Oberfläche, ich muss an seine Schuhe denken. Er tritt zurück, ich gehe ganz und gar in die Hocke. Viel höher ist die Grabplatte jetzt. Die grauen Einschlüsse im Stein reflektieren hier und da ein Licht. Kein Kiesel ist zu hören.
"Wegziehen wäre doch auch möglich gewesen. Dann hätte man wenigstens noch telefonieren können!", sage ich, ohne Gottfried anzusehen. Mein Kopf hakt sich aus, zieht die Halswirbelsäule mit, das Brustbein rückt näher. Die linke Hand sucht die Stirn. Das Rosa zieht sich weit in die Horizontale, beugt sich in einen stumpfen Winkel, schiebt mir die Zähne aufeinander und etwas Speichel in den Rachen. Die Kiesel scharren um meine Knie, greifen nach meinen Wangen.
"Nein.", höre ich Gottfried durch die Kiesel hindurch sagen, er zieht mich hoch, rückt mir den Kragen zurecht und wischt mir die Grabplatte aus den Augen. "Für so was geben wir nichts aus. Wir gehen."
Er hakt mich unter, legt mir die Rosen in den freien Arm, ich kann nur schwankend stehen. Eine ältere Dame mit einem grünen Giesseimer kommt uns entgegen, Gottfried grüßt freundlich. Er zerrt mich zum Friedhofsbrunnen, setzt mich auf den Rand und wäscht mir die restlichen Kiesel aus dem Gesicht wie einem Kind Schokoladeneis.
"Ich will jetzt eine rauchen und eine Toilette brauch ich auch. Da steht man am Wochenende so früh auf und dann liegt da ne rosane Grabplatte.", knurrt er, während wir uns -immer noch in der bekannten Formation, die Rosen in meinem, ich an seinem Arm - dem Friedhofstor nähern. Ich schliesse die Augen, finde kein Rosa mit Sprenkeln mehr vor. Lasse mich von Gottfried ziehen und würde die Blumen plötzlich gerne umtauschen. Anderes Bild - noch ohne Anzeige.
"Gottfried, wie sehen eigentlich Kamelien aus?"
"Das sind die mit den zwei Höckern. Die mit einem heißen Dromedare."
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